Die Rolle der Angst im Kontext von Machtmissbrauch/ The Role of Fear in the Context of Power Abuse
Die Rolle der Angst im Kontext von Machtmissbrauch – eine psychodynamische Vertiefung
Machtmissbrauch entsteht nicht im luftleeren Raum. Er ist eingebettet in Beziehungen, Abhängigkeiten und unausgesprochene Erwartungen. Aus psychodynamischer Perspektive ist Angst dabei nicht nur ein Begleitgefühl, sondern der emotionale Motor, der solche Systeme stabil hält – oft gegen das Wissen der Beteiligten.
1. Angst als inneres Erleben von Abhängigkeit
Besonders in Kontexten mit starken Hierarchien – Universitäten, Kulturbetriebe, künstlerische Ausbildung – erleben Menschen eine deutliche strukturelle Abhängigkeit. Die Angst, etwas Wesentliches zu verlieren, ist real und nicht eingebildet:
Zugang zu Ressourcen
Karriereperspektiven
Zugehörigkeit zu einer Community
fachliche Anerkennung oder positive Bewertungen
Diese Form der Angst drängt Betroffene häufig in eine überangepasste Haltung: Man schweigt, relativiert, normalisiert Grenzüberschreitungen – nicht aus Schwäche, sondern aus dem Wunsch, das eigene berufliche Überleben zu sichern.
2. Angst als organisationales Klima
Angst wirkt nicht nur im Individuum – sie organisiert Beziehungen. Wo Machtmissbrauch vorkommt, entsteht oft ein Klima des kollektiven Schweigens. Man begegnet:
impliziten Loyalitätskontrakten
Spaltungen zwischen „Innen“ und „Außen“
einer Grundhaltung des Misstrauens
Psychodynamisch entsteht eine Angstgemeinschaft: Jede*r spürt die Spannung, aber niemand weiß, ob und wo sich jemand sicher äußern kann. So stabilisieren sich dysfunktionale Muster wie von selbst.
3. Angst bei Personen, die Macht ausüben
Auch Führungspersonen sind nicht angstfrei. Ihre Ängste sehen nur anders aus:
Angst vor Kontrollverlust
Angst vor Statusbedrohung
Angst vor Kritik oder Entlarvung
Angst vor der eigenen Fehlbarkeit
Diese Ängste werden oft abgewehrt – durch Dominanz, autoritäres Verhalten, Abwertung oder Rückzug. Die Angst der Machtinhaber*innen verschränkt sich mit der Angst der Abhängigen und hält das System fest.
4. Angst als Abwehrmechanismus gegen Veränderung
Angst verhindert, dass Grenzüberschreitungen früh sichtbar werden. Betroffene fürchten Sanktionen, Rufschädigung oder Schuldumkehr. Zeug*innen fürchten, das System gegen sich aufzubringen. Und Institutionen fürchten Imageschäden.
Gemeinsam sichern diese Ängste den Fortbestand der bestehenden Machtordnung.
5. Warum die Bearbeitung von Angst zentral ist
Angst lässt sich nicht wegmoderieren. Sie braucht Strukturen, die halten:
sichere Räume
verlässliche Beziehungen
transparente Verfahren
institutionelle Verantwortungsübernahme
sichtbare Konsequenzen
Psychodynamisch bedeutet das: Angst muss ausgesprochen werden dürfen. Erst dann verliert sie ihre Steuerungsfunktion.
6. Fazit
Angst ist das unsichtbare Fundament von Machtmissbrauch.
Sie bringt Menschen zum Schweigen, stabilisiert toxische Strukturen und blockiert Veränderung. Erst wenn Organisationen emotionale und strukturelle Räume schaffen, in denen Angst anerkannt und bearbeitet werden kann, entsteht die Möglichkeit, Machtmissbrauch wirksam zu begegnen – und seine Wiederholung zu verhindern.
ENGLISH TRANSLATION
The Role of Fear in the Context of Power Abuse – A Psychodynamic Exploration
Power abuse does not emerge in isolation. It is woven into relationships, dependencies, and unspoken expectations. From a psychodynamic standpoint, fear is not merely a side effect but the emotional engine that keeps such systems in motion — often outside conscious awareness.
1. Fear as an Inner Experience of Dependency
In hierarchical environments such as universities, arts institutions, or cultural organizations, people experience real structural dependencies. The fear of losing something essential is tangible:
access to resources
career opportunities
belonging to a professional community
recognition and evaluations
This fear often drives individuals toward over-adaptation, silence, or the normalization of problematic behavior — not out of weakness, but out of a need to survive professionally.
2. Fear as an Organizational Climate
Fear extends beyond individuals; it organizes the relational fabric of institutions. Where power abuse exists, a climate of collective silence emerges:
implicit loyalty contracts
splits between “insiders” and “outsiders”
a pervasive sense of mistrust
Psychodynamically, this forms a community of fear: everyone feels the tension, yet no one knows where it is safe to speak. This unspoken dynamic stabilizes toxic structures.
3. Fear Among Those Who Hold Power
Leaders are not free of fear. Their fears simply take different shapes:
fear of losing control
fear of losing status
fear of criticism or exposure
fear of their own fallibility
These fears are often defended against through dominance, withdrawal, devaluation, or authoritarian behavior. The fear of the powerful intertwines with the fear of the dependent — reinforcing dysfunctional patterns.
4. Fear as a Defense Against Change
Fear prevents violations from being recognized early.
People fear sanctions, reputation damage, or blame reversal.
Witnesses fear becoming targets themselves.
Institutions fear reputational harm.
Together, these layers of fear uphold existing power structures.
5. Why Addressing Fear Is Essential
Fear does not disappear through appeals or goodwill. It requires structures that hold and contain:
safe spaces
reliable relationships
transparent procedures
institutional responsibility
visible consequences
Psychodynamically, fear must be acknowledged and worked with. Otherwise, it continues to shape the system in hidden ways.
6. Conclusion
Fear is the invisible foundation of power abuse.
It keeps people silent, maintains toxic cultures, and prevents transformation. Only when institutions create emotional and structural spaces where fear can be named and processed does the possibility arise to confront and ultimately disrupt patterns of abuse.